Eine Lubéron-Tour im November-
Lubéron: der Name dieser Bergregion, die sich östlich von Avignon und nördlich von Aix-en-Provence erstreckt und sich durch kleine, hochgelegene Dörfer auf Hügelspitzen und Felsvorsprüngen auszeichnet, ist für viele zum Inbegriff der malerischen Provence geworden. Oft wird sie auch die französische Toskana genannt.
Aix-en-Provence, meine phantastische Stadt, ist einfach ideal gelegen: nur ein Katzensprung trennt sie vom Mittelmeer im Süden, von den zerklüfteten Landschaften des Lubérons im Norden. Wenn ich meinen Freunden aber im azurstrahlenden, zirpenklingenden, idyllischen Hochsommer einen kleinen Ausflug in die Bergdörfer vorschlage, bekomme ich immer dasselbe zu hören: doch nicht im Sommer, das sei ja touristenüberfüllt, kommerziell und unecht. Alle Reiseführer in allen Sprachen sagen es ja: den Lubéron soll man am liebsten im späten Herbst, besser noch, im Winter besuchen. Da werde man von der unverhüllten Authentizität der Region ergriffen – da werde es echt. Ich wurde zwar in der Provence geboren, und habe den Großteil meines Lebens dort verbracht, aber ich neigte bisher dazu, Ausflüge in abgelegene Bergregionen im Frühling und Sommer zu planen, zur Lavendel- und Marktzeit. Ich Banausin, was habe ich da verpasst. An einem wunderbar sonnigen, warmen Novembersonntag bin ich also den Reiseführerempfehlungen gefolgt und habe mich auf die Suche nach der echten Provence begeben. Ich war auf die weltumstürzende Neuentdeckung gefasst.
In den wirren Zeiten der Provence, als das römische Reich zusammenbrach und die Gegend jahrhundertelang zum Opfer der verschiedenesten Feldzüge wurde, zogen sich die Menschen ins Gebirge zurück und bauten diese Festungsdörfer mit mittelalterlicher Gestalt aus hellem Kalkstein. Später fanden die Waldenser hier Zuflucht, verstärkten die Festungen, besetzten die Burgen, und wurden doch gnadenlos ausgerottet. Die siegreichen Herren ließen Glockentürme und Lustschlösser errichten, die heute Märchenlandschaften hervorzaubern. Diese Festungsdörfer, damaliges Symbol der Brutalität, der Angst und des Lebens in akuter Verwundbarkeit, diese Mauern, die an monatelange Belagerungen erinnern, wurden zur Ansichtskartenidylle. Das mag ein Merkmal der europäischen Geschichte sein: die Poetisierung und Ästhetisierung des Schrecklichen. Das Schaudern lässt den Lubéron so schön werden. Meine generische Beschreibung gilt für alle Dörfer, wie man es anhand der Bilder feststellen wird: ihre Architektur folgt immer diesem geschichtlichen Muster. Sie klammern sich an einer Anhöhe fest, bespicken sich mit Türmen, und sperren sich mit ihren weißen Steinen gegen Winter und Feind ein.
Wenn man den Lubéron von Aix aus erreicht, ist Ansouis der beliebte Einstiegspunkt in die Bergwelt. Das hübsche hochgelegene Dorf ist eine gute Zwischenstation, halbwegs zwischen Stadt und freier Natur.
Wer vom Aixer Stadtbild geprägt wurde, wird sich im kleinen Dorf, das über dem Tal der Durance hinausragt, noch nicht allzu fremd fühlen: Ansouis ist wie Aix in Miniaturformat, als ob der Cours Mirabeau sich samt Stadtpalais aus dem 18. Jahrhundert und Brunnen bis in die ländlichen Hügel erstrecken würde. Im Schloss von Ansouis, das sich über die kleinen, schnörkeligen Gassen erhebt, scheint das aristokratische Leben aus dem Jahrhundert vor der französischen Revolution fortzubestehen. Ich denke an Eichendorffs Schloss Dürande – „in der schönen Provence liegt ein Tal zwischen waldigen Bergen, die Trümmer des alten Schlosses Dürande sehen über die Wipfel in die Einsamkeit herein…“ –, an die idyllischen Schilderungen der Provence der Schlösser und Herren. Hohe Fenster mit Schmiedeeisen, französische Barockgärten, klassische Fassaden.
Schade nur, dass ich das alles nur von außen betrachten kann. Im Herzen der echten Provence bleibt leider das Schloss ab Oktober und bis April geschlossen. Diese Ansicht zur Jahreseinteilung scheinen auch 80% der Ladeninhaber in den Dorfgassen zu teilen. Ich erlebe die dürre, kompromisslose Authentizität. Blauer Himmel, Licht und Stein – die ewige, zeitlose Provence. Von Menschen kann man ja abstrahieren. Und Möbel in alten Schlössern, das sieht doch immer gleich aus.
Diese Trostworte reichen aber nicht aus, wenn ich feststellen muss, dass das Musée extraordinaire (Fabelhaftes Museum) des Malers und Bildhauers Georges Mazoyer auch geschlossen bleibt. „Ganztags geöffnet“, das Schildchen am Eingang speist mich mit trügerischen Hoffnungen – Lüge, Lüge! Das gilt nur für die schöne Zeit. Das hätte ich aber liebend gerne gesehen: der Künstler und Hobbytaucher, der von den Tiefen des Meeres fasziniert war, versammelte hier Fossilien aus den Urzeiten, als das Meer die Berge bedeckte, maritime Kuriositäten, märchenhafte Skulpturen, und errichtete aus farbenfrohem Glass, Keramik und Gips eine schimmernde unterseeische Grotte.
Meine Traumvorstellung dieses magischen Ortes wird von der Konfrontation mit der schroffen Realität ungetrübt bleiben. Ich denke an Novalis. „Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht. — Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft.“ In den lichtvollen Kammern meines Geistes gestalte ich also mit meinem inneren Auge phantastische Landschaften der blauen Tiefe. (Die ich im Sommer für 3 Euro 50 mit leiblichen Augen hätte sehen können.) Ich hoffe, diese Lubéron-Tour wird nicht zur imaginären Reise.
Ich fahre zurück in die Zeit: Lourmarin, das nächste Dorf, das ich besuche, steht ganz im Zeichen der Renaissance.
Hier im Schloss hat sich der große französische König des frühen 16. Jahrhunderts, François Ier, auf dem Weg nach Italien einquartiert, und das Gesims des großen Kamins zeugt von der Renaissance-Faszination für ferne Reisen und neue Welten. Das Schloss steht auch offen, seine monumentalen Treppen und Terrassengärten sind bedeckt von blauen Prunkwinden in Blüte. Neben der historischen Rekonstitution und den Porträts sind auch eine bewegende Ausstellung zur Kunst in den Schützengräben des ersten Weltkriegs, eine Madonna aus der Werkstatt Lippis und ruinenpoetische Radierungen aus dem 18. Jahrhundert zu sehen.
Lourmarin war schon immer mein Lieblingsdorf in der Gegend, in meinen Augen auch das schönste. Hier wird es toskanischer denn je, mit Ölbäumen, Weinberg und Zypressen, und die kleinen Straßen sind zur Hochburg des kulturellen Lebens geworden, mit vielen Künstlergalerien und Buchhandlungen.
Zwei große Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts, Henri Bosco und Albert Camus, haben das Dorf geprägt und sind hier begraben – ich denke mir, wenn alles geschlossen ist, kann ich ja noch die Toten besuchen, auf die kann man sich immer verlassen.
Aber Lebende gibt es hier sogar auch. Zur Mittagszeit sind die Terrassen unter der erstaunlich milden Novembersonne voll, und manche Geschäfte sind offen. Aber ich soll mich nicht täuschen: viele Besitzer gehen nächste Woche oder übernächste Woche weg. Ich bin gerade pünktlich vor dem großen Winterschlaf aufgetaucht.
Lourmarin hätte ich nicht verlassen dürfen – ich hätte in den Gärten des Schlosses, in den Weinbergen oder in den Kaffees verweilen sollen, in dieser warmen Insel der Menschlichkeit. Aber ich bin ins Kar doch weitergefahren, tiefer in die Berge, zurück in die Zeit: Bonnieux, Lacoste, Ménerbes, hier wird es richtig einsam und mittelalterlich.
Bonnieux und Lacoste sind fast symmetrische Dörfer, die auf gegenüberliegenden Hügeln über dem Tal des Calavons stehen und sich seit Jahrhunderten misstrauisch beäugen. Die weitreichende Sicht von der Kirche in Bonnieux aus ist sehr schön – dass die Kirche selbst geschlossen ist, wie alles sonst im Dorf, und dass nur die Blicke fauler roter Kater mich begleiten, muss ich ja gar nicht präzisieren.
Lacoste ist noch kleiner, eigentlich nur ein Weiler an einem Felsvorsprung angehaftet, aber ihn umgibt eine schweflige Aura: die hohen Türme, die ihn beschatten, gehörten einst dem Marquis de Sade.
Die mittelalterliche Gestalt des alten Châteaus de Lacoste hatte Sade unheimlich begeistert; er ließ das Schloss gründlich renovieren und nach seinem Geschmack einrichten. Die provenzalische Sprache wollte er auch lernen, und führte deshalb eine erstaunliche Korrespondenz mit einer hochintelligenten und gelehrten Einwohnerin des Dorfes, Milli de Rousset. Ihr unscheinbares Aussehen schützte sie vor den extravaganten Gelüsten Sades, aber ihr glänzender Witz ließ ihn sein ganzes Leben lang an ihr hängen. Es ist ein schöner Briefaustausch, den man in einer zweisprachigen Ausgabe (provenzalisch und französisch) lesen kann – eine unerwartete Seite Sades. Die Zeit zwischen seinen Verhaftungen verbrachte er hier, und das Schloss hat er in seinen Werken oft verdeckt besungen.
Vor dem Schloss steht eine Art künstlerischen Sodom-Erlebnisparks, mit monumentalen Werken, die versuchen, auf subtile und familienfreundliche Art auf die Phantasiewelt des Marquis anzudeuten. Sade, FSK 0 – ein Kind spielt mit einer riesigen doppelten Hand, die wahrscheinlich auf ein Sexspielzeug anspielen soll, als wäre es eine große Schaukel. Mir ist das irgendwie nicht ganz behaglich. Ansonsten ist niemand da.
Das Schloss gehört nun dem Couturier Pierre Cardin, und die ganze Ortschaft auch – es wird im Winter noch menschenleererer als in allen anderen Dörfern, denn es ist nur noch ein Schaufensterdorf, ein Theaterspiel auf leerer Bühne. Das Gespenst wird durch die Gunst des Tourismus im Sommer wiederbelebt, und es ist ein merkwürdiges Gefühl, inmitten von dicht verschlossenen Fensterläden zu laufen, als wäre man nach Abgang der Schauspieler in die Kulisse gekommen. Ohne den Massentourismus wäre alles hier das ganze Jahr lang so wüst und leer, wie heute.
Natürlich bleibt das Schloss im Winter geschlossen, aber hier war ich schon – ich weiß, dass keine dunklen Gemächer, Folterkammern und luxuriösen Bilder die Besucher erwarten, nur eine mühsame Rekonstitution, da die historischen Möbel 1789 beim revolutionären Bauernangriff auf das Schloss des dekadenten Herren zerstört wurden. Das Interessanteste am sommerlichen Besuch bilden deshalb eigentlich die gedankenversunkenen Mienen der Familienväter, die im Stillen durch innerliche Räume der wilden Vorstellungen umhergehen. Winterliche Phantasien: die Straßen sind jetzt so leer, dass man sich von örtlichen Anregungen treiben lassen könnte und sich am Fuß des Schlosses ungestört nackt züchtigen lassen könnte. Dies wird aber ein unverifizierter (und unillustrierter) Tipp bleiben.
Weiter, nach Ménerbes. Ménerbes und Gordes sind die Kopfmöbel des Lubérons, die tapferen Markenbotschafter, die von ihrer Monopolsituation unverschämt profitieren – im Sommer kann man hier nicht parken, ohne unmögliche fixe Gebühren zahlen zu müssen. Jetzt könnte ich aber mitten auf der Hauptstraße parken, wenn ich möchte. Würde ja kein Schwein stören. Fast alle Läden kündigen eine Wiedereröffnung im Frühling an – die Restaurants aber schon Ende Januar, denn Ménerbes beherbergt das Trüffelhaus, und ich vermute, dass manche Touristen schon dem berühmten schwarzen Pilz zuliebe ab Anfang des Jahres zurückkehren.
Die Sonne geht unter – ich will den Sonnenuntergang in Gordes sehen. Das Dorf gehört zweifelsohne zu den allerschönsten in der Provence, und Freunde, die sich für Herr der Ringe begeistern, haben mir schon oft gesagt, es sehe so aus wie die majestätische weiße Stadt Minas Tirith. Die Silhouette Gordes in der Abenddämmerung ist in jeder Saison ein wunderbarer Anblick.
Gordes ist auch für seine „Bories“ bekannt, ein typisch provenzalisches Beispiel volkstümlicher Architektur. Diese Hütten aus trockenem Stein sind im 18. Jahrhundert entstanden, als die Androhung einer Hungersnot und die sozialen Unruhen den König dazu führten, besitzlosen Bauern die Aneignung der Ackerböden zu erlauben, die zu keinem herrschaftlichen Landgut gehörten.
Es folgte ein Ansturm auf freistehendes Land, aber in diesen kalksteinigen, dürren Gegenden war der Boden von weißen Steinen bedeckt – damit errichtete das Volk die Bories mit dichter Aufstapelung der Steine, ohne Zement. Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts sind diese kahlen und kalten Hütten traditionelle Behausungen geblieben, bis die Moderne sie nach und nach verschwinden ließ. In Gordes haben sich aber Historiker und Träumer für sie begeistert, und eine Ansiedlung rehabilitiert. Der Winter ist wahrscheinlich die perfekte Zeit, um sie in aller Besinnlichkeit und Andacht zu sehen: melancholische Trümmergedanken und Endzeitvorstellungen fallen einem bei solcher Verlassenheit extrem leicht.
Wer extrem misanthropisch gesinnt ist und die Gegenwart anderer Menschen nicht erträgt, sollte die Dörfer des Lubérons im Winter besichtigen. Das kann man sich auch als meditative Reise erdenken – so befreit man sich von allen weltlichen Versuchungen, Kunst und Kauf, Menschenkontakt und sogar Essen. (Haben Sie schon versucht, an einem Sonntagabend im November ein geöffnetes Restaurant im ansonsten ultratouristischem Gordes zu finden? Am Ende bin ich doch zurück nach Aix-en-Provence gefahren – meine phantastische Stadt schläft auch im Winter nie.)
Brentano sagt es ja: „Bereite dich auf Erden/ Auf deinen Todesreis‘“. Die Provence der Kleinstädte und abgelegenen Regionen ist im Mai und Juni, zur Zeit des blühenden Lavendels, und auch im September am Schönsten; aber selbst wenn Sie, wie viele normale Menschen auch, Urlaub im Juli und August machen, ist es doch gar nicht so schlimm, unter Menschen zu sein. Aber Spätherbst und Winter? Das war ein schlechter Tipp.
Entdecken Sie die anderen Bergregionen der Provence: A walk on the wild side (in englischer Sprache).
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le 14 April, 2016 à 8 h 56 min a dit :
Beneidenswert, dass Du diese Gegend Dein Zuhause nennst! Ich war zu Schulzeiten zum ersten Mal in der Provence, wir hatten eine Städtepartnerschaft mit Istrès en Provence. Seitdem hat mich diese ganz spezielle Südfrankreich-Sehnsucht nie mehr losgelassen. Ich kann mir so ein bisschen Einsamkeit durchaus auch mal für einen Wintertip zum Durchatmen finden. Aber wenn’s dann zu einsam wird, dann muss ich doch wieder in die Stadt. Zum Glück ist Aix ja nicht weit :).
le 14 April, 2016 à 22 h 46 min a dit :
Danke, liebe Sandra! Ja, Aix ist nicht weit, und nach den langen einsamen Stunden in der herrlichen Natur, tut es auch gut, Lärm und Licht wieder zu finden! Falls du nach Südfrankreich zurück kommen solltest, sag es mir, ich liebe es, Tipps über meine Heimat zu geben 😉 Danke für den Besuch!
le 12 Januar, 2017 à 12 h 37 min a dit :
[…] Verdon’s mountain range epitomize what we call the interior Provence – together with the Lubéron, about which I also wrote here (in German). […]
le 14 Januar, 2017 à 10 h 58 min a dit :
[…] G-Städte noch nicht gesättigt wurde, bleibt hier! Ich zeige euch in deutscher Sprache die schönsten Dörfer des Lubérons, darunter natürlich Gordes. die schönsten Dörfer der Provence […]