Le Mas Cacharel, im Herzen der Camargue-
Ich bin viele Jahre in die Camargue gegangen, ohne sie richtig zu verstehen, bis ich den Mas Cacharel kennengelernt habe.
Viele Landschaften, die allgemein als schön und beeindruckend gelten, zeichnen sich durch den Vorzug des Vertikalen aus. Es sind Schluchten, Wasserfälle, Klippen und weitere Abwandlungen des evident Erhabenen. Die Schönheit der Camargue lässt sich aber allmählich erobern. Sie entfaltet sich ins Horizontale, eine Teppichweberei aus Wasser, Sand und Licht, die man erst aus einiger Entfernung entdeckt – ich denke, die richtige Augenhöhe wird auf dem Rücken eines Pferdes gefunden. Zu Fuß versperren Schilf und Busch die Sicht, und höher als ein Pferd ist schon zu hoch, es drückt dieses niedrige Relief aus Sand und Gischt platt.
Die Camargue ist dieses wandelnde Land mit verschwommenen Konturen, das zwischen den beiden Armen der Rhône innerhalb des Deltas entsteht, wo Salz- und Süßwasser sich in den Sümpfen, Seen und Salzwiesen vermischen. Launige Gewässer beherrschen es, verändern stets die Gestalt des großen und verborgenen Vacarès-Sees, das Herz der Camargue, und verwischen die Schwelle, an der das Land der Verführung des Meeres nachgeht. Das lebendige Wasser macht ihre Schönheit aus, erweitert den Himmel in unendlichen Spiegelungen, zaubert auf der immensen Fläche Verwandlungen und Tiefe hervor.
Die Camargue ist das nie vollkommen gezähmte Wasser, dieses vieladrige Netzwerk, um Salzwiesen, Reisanbau und fragile Seen, die unzählige bunte Vogelschwärme hierherlocken. Manche Zugvögel hören sogar auf wegzuziehen, um in der Camargue zu bleiben, da sie ihrer Anziehung nicht widerstehen können.
Durch Moor und Röhricht laufen tausende Gerinne mit tückischem Boden – wer glaubt, der Treibsand der Camargue sei bloßes Gerücht, mag seinen Hohn bitter bereuen, und ich habe schon oft gesehen, wie unvorsichtige Tiere, seien es die weißen Pferde oder die schwarzen Stiere, in den schlammigen Tiefen stecken bleiben.
Denn der Camargue ist etwas eigen, das Außenseiter nicht sofort verstehen: der tägliche, allgegenwärtige Umgang mit Gefahr und Drohung. Nicht nur die Drohung des Meeres, das Landesstücke verschlingt und vom Segen zum Verhängnis der Camargue werden könnte. Auch die Gefahren dieser Lebensart, wofür sich seit Generationen hunderte Männer und Frauen – aber hauptsächlich Männer, das muss man sagen, diese harte Welt bleibt eher geschlossen – entschieden haben: der Umgang mit den Stier- und Pferdeherden, durch Moor, Meer, Sand und Stadt, die Stierführungen (auf provenzalisch „Abrivades“) durch die Stadt, die Reitkunst in hektischen, erprobenden Bedingungen, und auch noch die „Course camarguaise“, eine Art von Stierkampf, die auf keinen Fall zum Tod des Tieres führt, sondern oft zur schweren Verletzung des Bewerbers, der dem Stier eine an seinen Hörnern gebundene Kokarde entreißen muss.
Mich hat immer die Allgegenwärtigkeit des Todes gewundert, die lockere Art, mit der erzählt wird, der und der habe ein Stierhorn durch den Bauch gestochen bekommen, und die habe sich bei einem Sturz den Schädel am Pflaster gebrochen. Es ist ein merkwürdiger Kontrast zwischen der lauernden Gewalt, und den wunderbar heiteren Ansichtskarten, die nur die Camargue produzieren kann – die „Roussatäio“, Führungen der Stuten und Fohlen durch die Stadt, von Reitern eskortiert, die Visionen abfliegender rosafarbener Flamingos im Sonnenuntergang, Silberreiher auf dem Rücken eines Bullen, bunter Wallfahrten, galoppierender Pferde am Ufer, die an den bekanntesten französischen Pferdefilm überhaupt erinnern, Crin-blanc (auf Deutsch Der weiße Hengst).
Crin-Blanc, ein wunderschöner Film in schwarz-weiß, der in dieser Gegend zum Kultobjekt erhoben wurde, wird jeden Sommer auf die Mauern der Kirche Notre Dame de la Mer feierlich projiziert, und wenn ich sehe, wie die flackernden Meeres- und Flussbilder am dunklen Stein leuchten, zum Wesen dieser uralten Festungskirche werden, die über die ganze Camargue hinausragt und in den wilden Zeiten der Provence als Schutzburg diente, verstehe ich langsam auf welche geheimnisvolle Art das Schöne und das Schroffe dort zusammenhängen.
Denn die Camargue ist teilweise noch mittelalterliches Revier. Die Brackgewässer, Heiden und Sümpfe der Camargue gehören vorwiegend zum Anwesen alter, adeliger und traditionsbedachter Familien. Wie die Lehensherren von damals stellen sie Bauern, Reiter und Viehhirte („gardians“ und „manadiers“) ein, und organisieren das ganze Jahr lang unter allen Vorwänden – Beerdigungen, Heiligenverehrungen, Geburtstage… – bunte Feste, mit Tieren, Fanfare und Ball, die lediglich dazu dienen, die stolze Fortdauer ihrer unnachgiebigen Identität zu verherrlichen. Kirche und Segen gehören fast immer dazu.
Der Legende nach habe der christliche Glauben zum ersten Mal auf französischem Boden Fuß damals gefasst, als der Kahn ohne Segel und Rudern der aus Judäa vertriebenen Jüngerinnen Maria Salome und Maria Kleophae an der Mündung der Rhône ankam, wo sie auch die erste gallische Kirche gründeten. Im fünfzehnten Jahrhundert hat der große provenzalische König René Ausgrabungen verordnet, und unter der Kirche die Leichname zweier Frauen aufgefunden, die sofort als die der Heiligen identifiziert wurden, und deren Reliquien immer noch in der Kirche aufbewahrt werden. Sagen Sie den Leuten nicht, dass die Datierung mit Carbon 14 widerlegt hat, sie könnten aus dem ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung stammen. Zweimal pro Jahr kommen tausende von Pilgern, versammeln sich um die Schreine, und tragen den Kahn wieder ins Meer. Provenzalische Lieder werden gesungen und der Priester meint, die Camargue sei Frankreichs „Tor zum Glauben“ gewesen. Vielleicht braucht man das, diese Hoffnung, diese Andacht, diese Umhüllung des Lebens ins Übernatürliche, um mit dem Salz, dem Wind, den Tieren und der Erschöpfung klarzukommen.
Und wahrscheinlich brauchen es die Zigeuner noch mehr, als wir „gadjé“ – die Sesshaften, wie sie uns nennen. Die Camargue gehört auch ihnen, und zwar mehr als irgendein anderer Ort in Frankreich. Es heißt, auf dem Wunderkahn sei auch eine dritte Frau damals angekommen, vielleicht eine äthiopische Prinzessin, eine schöne, dunkelhäutige Frau, wie im Hohelied Salomos, die heute als die Schwarze Sara verehrt wird, und zur Schutzpatronin der Zigeuner geworden ist. Jeden 25. Mai strömen sie aus ganz Europa, mit modernen oder sogar manchmal mit traditionellen Wohnwagen aus lackiertem Holz, und steigen in die Krypta hinab, deren Wände durch das ewige Kerzenmeer schwarz gefärbt worden sind, und legen der eindrucksvollen Sara aus Ebenholz prachtvolle Kleider und Schmuck um den Hals, handschriftliche Gebete und Votivtafeln zu Füssen. Auch sie wird durch die Dorfstraßen bis an den Strand getragen – diese volkstümliche, erst spät von der Kirche offiziell angenommene Heilige aus fernen Ländern, ist zum Symbol der Bindung der Zigeuner an die Camargue geworden, dieses ungreifbare, freie Land der Leere und des Lichts, ihre letzte Zuflucht. Folco de Baroncelli meinte, die Camargue sei das einst verlorene, aus den Tiefen des Meeres wiederauferstandenes Atlantis, und die Zigeuner, ihre mythischen Ureinwohner.
Folco de Baroncelli: der ehrenwürdigste Name in der Camargue überhaupt. Am Ende der Maiwallfahrt versammeln sich Provenzalen und Zigeuner bei seinem monumentalen Grab, feiern einen Gottesdienst in provenzalischer Sprache, und lassen die „Arlésiennes“ im typischen Kostüm um das Mausoleum im Kreis tanzen.
Beim Anbruch des 20. Jahrhunderts, als die Camargue am Rande der neuen Moderne langsam unterging, hat Baroncelli sie aus ihren Aschen neuerfunden. Man könnte sogar meinen, die Camargue sei eine wunderschöne Schimäre, das gelungene Kunstwerk eines schwärmerischen Schöpfergottes – ein Traum Baroncellis, der zum verheißenen Land wurde. Der Marquis de Baroncelli gründete la Nacioun Gardiano und erhob somit das elende Volk der Viehhirte und Reiter zur mythischen Zunft, kodierte ihr Kostüm, schrieb Lieder, ließ den Maler und Bildhauer Hermann Paul das „Kreuz der Camargue“ entwerfen, das hier jeder um den Hals trägt. Das Kreuz verbindet den Dreizack der Gardian, das christliche Kreuz, den Anker der Seeleute, und das schlagende Herz, die Kirche Notre-Dame-de-la-Mer. Es soll die drei göttlichen Tugenden verkörpern: Glaube, Liebe, Hoffnung. Ich, die Ungetaufte, wollte mir damals das Kreuz tätowieren lassen, das mich so merkwürdig rührte. Ich war sechszehn – bei meiner Volljährigkeit war der Vorsatz leider schon ausgestorben. Aber ich glaube noch an die merkwürdige Wunderkraft dieses Talismans der Camargue, der sinnbildlich dafürsteht, wie aus Fiktion und Mythos ein Volk entsteht. Manche hier würden ihre Hand ins Feuer legen: das Kreuz kommt aus den Nebeln der Urzeit, so wie die Lieder und die Kleider, so wie die Camargue. Sie ist das Symbol dieser Gegend, die Tag für Tag, Fest für Fest, ihre Identität behauptet. Ihre anmutigen Züge verschmelzen sich mit der Gestalt des Deltas – mit den Schicksalslinien, die die Zigeunerinnen in meiner offenen Hand erkennen wollen. Langes Leben, viel Liebe und viel Schmerz, haben sie mir vorausgesagt. Ich denke, sie sprachen eigentlich nicht von mir, sondern von der Camargue.
Ich habe von Kind auf die Camargue besucht, ohne sie richtig zu verstehen – bis ich das Hotel im Mas Cacharel für mich entdeckt habe.
Der Mas – provenzalisches Wort für die typischen Herrenhäuser des Südens – gehört Florian Colomb de Daunant, Sohn des Autors des Films Crin-Blanc, der die Enkelin des Marquis de Baroncelli geheiratet hatte. Er trägt mit Leidenschaft dieses doppelte Erbe, das sein Leben bestimmt hat. In diesem wunderschönen Haus, das sein Vater erbauen ließ, ist er aufgewachsen; es ist wahrhaftig zum Museum der Camargue geworden.
Hier findet man, was kein anderes Hotel hier zu bieten hat, die absolute Einsamkeit inmitten der Sümpfe und Röhrichte, und die unmittelbare Nähe zu den Flamingos. Auf Bildern in der Vogelperspektive erkennt man sehr deutlich, wie außergewöhnlich abseits des Menschenverkehrs Cacharel steht, wie allein der weiße Turm des Taubenschlags aus der weiten Fläche ragt – der zweithöchste Punkt der Camargue, nach dem Kirchenturm des Dorfes, erzählte mir Florian.
Hier hört man das gespenstische Säuseln der Geschichte, denn Cacharel war und bleibt der Lieblingsort der Künstler, Schriftsteller und Dandys, die sich für die Camargue begeistern. Als Reiterin meine ich auch, es lassen sich hier die besten Pferde finden, wahrscheinlich auch, weil sie respekt- und rücksichtvoll genug behandelt werden, um von Menschenhand nicht gebrochen zu werden. Hier erkundet man die Geheimnisse. Manchmal lasse ich Florian mich zusammen mit einer kleinen Reitergruppe zum Strand Grand Radeau führen, der fast verbotene Strand, den nur Einwohner der Saintes Maries betreten dürfen – ich muss ganz kitschig werden, um von diesem Ort überhaupt zu erzählen.
Wie ginge es anders? Unendlich weiter, leerer Strand, Muscheln, die wie das Horn eines Einhorns aussehen, silbernes Gras auf den weißen Sanddünen, eine Hütte aus Treibholz, wie am anderen Ende der Welt, und Abenddämmerungen, wie ich sie nirgendwo sonst in Frankreich bewundern durfte – Flammenwellen, die das trockene Unkraut anzünden.
Im Rausch der Begeisterung taucht jedes Mal das mit der Tattoo-Idee in meinem Kopf wieder auf – und vielleicht sollte Cacharels Symbol, das Kreuz mit den drei Möwen, auch noch hinzukommen.
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le 15 April, 2016 à 7 h 09 min a dit :
Merci pour ton commentaire sur nôtre site!
Danke für Deinen Kommentar auf unseren Bericht über die Tour zu Ostern in Richtung Camargue, http://www.whatabus.de/ostern-in-suedfrankreich-provence-mittelmeer-und-viele-paesse/.
Du hast die Seele der Camargue hier ja wunderschön beschrieben, auch wenn die Abrivades am 11. November sicherlich Geschmacksache sind – Quads und Alufolie zur Irritation der Pferde klingt ja nicht gerade tierfreundlich. Aber tolle Fotos von der Camargue!
le 15 April, 2016 à 8 h 28 min a dit :
Vielen lieben Dank für den Besuch hier, Marc, freut mich, dass es dir gefallen hat! Du hast absolut Recht, diese Szenen mit der Alufolie sind nicht schön (auch wenn es, ehrlich gesagt, gefährlicher für die Reiter als für die Pferde ist – Reiter, die dadurch zum Sturz gebracht werden, können sich sehr verletzten, es gab auch schon Todesfälle…). Auch wenn ich sie liebe, wollte ich die Camargue ehrlich beschreiben, und auch die brutaleren, rauen Seiten. Es bleibt eine sehr traditionelle Gesellschaft und das Leben dort, mit den Tieren, der Arbeit draussen, usw, ist nicht immer einfach.
le 29 November, 2016 à 15 h 21 min a dit :
Wow, tolle Bilder! Besonders die sich im Wasser spiegelnde Pferdekutsche am Strand. Muss unbedingt mal in die Camargue 🙂
le 29 November, 2016 à 15 h 44 min a dit :
Danke Kathrin! Bin sicher, dass es dir sehr gefallen würde. Falls du möchtest: zurzeit gibt es auf der Facebook Seite von Itinera Magica ein Gewinnspiel, um 2 Nächte im Mas Cacharel zu gewinnen! 🙂